Die Hermetischen Quellen
des Tarotspiels
Tarot Philosophie
Der Tarot ist ein Meisterwerk der hermetischen Naturphilosophie. Hermetik bezeichnet die Kunst, Gegensätze miteinander vereinbar zu machen. Schon das magische Quadrat der Vier Elemente auf der Karte XXI, das als Generalschlüssel für das gesamte Spiel dient, ist ausschließlich in Gegensätzen organisiert, die miteinander verbunden werden müssen. Welche Rolle spielte das hermetische Denken in der Geschichte? Warum spricht man von Christlicher Hermetik? Hier die geschichtlichen Hintergründe
Himmel & Hölle vs. Innere Alchimie
Jahrhundertelang stand die hermetische Natur-Philosophie auf Kriegsfuß mit den jeweils herrschenden Religionen. Die einen schufen Kulte und Riten um allmächtige Götter und Göttinnen, die anderen studierten die Gesetze der Natur und verehrten deren Großzügigkeit und Güte. Während Religion bemüht sein muß, Konformität in den Reihen der Anhänger zu wahren und ihre Grundsätze ständig gegen Abweichler und ‚Ungläubige‘ verteidigt, spendet Natur allen Wesen gleichermaßen, sucht ständig Harmonie, heilt Verletzung ohne Ansehen von Wert oder Unwert. Hierin erkannten die Naturphilosophen eine den kleinlichen Gewohnheiten des Menschen weit überlegene liebende Kraft, der sie sich demütig und neugierig zuwandten. Die Priester witterten in den freien Denkern anarchische Aufwiegler. Die Philosophen verachteten den rechthaberischen Klerus.
Einig waren sich Priester und Philosophen darüber, daß jede Seele ursprünglich aus einer idealen Lichtwelt zur Erde kommt. Um nach dem Tod des Körpers dorhin zurückzukehren, dürfen ihr keine ‚dunklen Schlacken‘ anhaften. Diese sammelt sie aber in ihrem Erdenleben als Energiepaket aus Frustration, Ärger und dem Kleben an unerfüllten Wünschen. Aufgabe eines jeden Menschen ist daher eine rigorose innere Reinigung von diesen Schlacken.
Das ist für die Tarot-Forschung in sofern von Belang, als wir auch in den Großen Arkana des Tarot de Marseille die Geburt einer Seele aus ewigem Licht und ihre nachfolgenden Abenteuer auf der Erde beschrieben finden. Dort verstrickt sie sich und findet nicht mehr heim.
Priester wie Denker fragten: Was tun? So machten sich alle auf die Suche nach dem Ausweg. Und hier nun teilten sich die Ansätze in puncto Befreiung und Erlösung. Während die Kirche Erlösung und Heimkehr in den paradiesischen Glückszustand durch Buße und fromme Unterwerfung offerierte, betonte die Philosophie die Selbstverantwortung und Selbstbefreiung jedes Einzelnen. Diesem damals sehr einsamen und riskanten Weg haben die ersten Tarot-Meister ihr Spiel gewidmet.
Zwei konkurrierende Heilswege.
Heute, nach einem halben Jahrtausend, ist es wichtig, uns zu vergegenwärtigen, wie sehr zur Geburtsstunde des Tarot religiöse Phantasien das Denken und Fühlen der meisten Zeitgenossen in Bann hielten.
Die kirchliche Weltanschauung ging von den Menschen als gefallenen Sündern aus. Eine Prüfung am Himmelstor kann sie retten oder zu ewiger Höllenqual verurteilen. So traten die Menschen am Lebensende vor den allmächtigen Gott; die einen demütig, andere zitternd, wieder andere mit selbstgerechter Zuversicht.
Die Naturphilosophen dagegen kannten keinen urteilenden oder gar strafenden Gott. Ihre göttliche Welt, die sie Makrokosmos nannten, war ein unendliches Reich bedingungsloser Liebe und Geborgenheit. Jeder menschliche Mikrokosmos war eingebettet in diese lichterfüllte Sphäre, deren kosmische Schöpferkraft für alle nur das Beste will.
Nach diesem Weltbild entwickelten die Tarot-Meister der Renaissance ihr revolutionäres Narativ zur Selbstbefreiung des Menschen durch die alchimistische Transformation des inneren Bleis lastender Gefühle ins strahlende Gold der Zuversicht: Von Stress und Zweifel zu gelassener Heiterkeit – und das nicht erst im Himmel, sondern gleich im jetzigen Leben.
Hier entfaltete die hermetische Kunst, Widersprüche zu überwinden, ihre heilende Wirkung. Im Verzicht auf das barsche Entweder-Oder, Richtig-Falsch, Gut-Böse des zwanghaften Denkens öffnet sich das verbindende Sowohl-als-Auch, und mit ihm ein erlösendes Lebensgefühl von Toleranz und … überraschend: Humor:
Die alten Tarot-Schöpfer hatten entdeckt, daß der Weg zur Befreiung – unsere persönliche Konfrontation mit Versagen, Blockaden und trügerischern Hoffnungen – ein durchaus spaßiger Vorgang werden kann. „Humor ist, wenn man trotzdem lacht.“ In der Komödie geht laufend etwas schief, was gerade deshalb zum Lachen reizt. Wie schafft man das im Alltag?
Humor entsteht aus der Kunst, zwei ursprünglich nicht zusammenpassende Welten witzig-provokant miteinander zu verbinden, beispielsweise einer Geschichte eine völlig unerwartete Wendung zu geben. Je schroffer der Gegensatz zwischen Erwartung und Erkenntnis ist, desto mehr wird gelacht.
Daher war es kein Zufall, daß man sich – wie schon die frühen Christen der Antike – als Methode der inneren Läuterung auf das hermetische Denke besann: ‚Wie Oben so Unten‘, ‚Wie im Himmel, also auch auf Erden‘, ‚Die Letzten werden die Ersten sein.‘ Man übte das Verbinden unbequemer Gegensätze, damit die Liebe der Natur, die ja auch ständig Widersprüche überwinden muß, sich durch den Menschen in die Welt hinein entfalten kann.
Vorbild war Christus‘ markantes Abschiedswort „Liebe deine Feinde“.
Zum Symbol wurde das gleichseitige Kreuz als Vereinigung der gegensätzlichen waagrechtem und senkrechtem Balken. Im Bild des symetrischen Kreuzes begegneten sich die christliche und die hermetische Denkweise.
In der Mitte des Kreuzes: Ein Loch.
Am Kreuzpunkt zweier gegensätzlicher Gedanken
entsteht die geheimnisvolle Leere, durch welche die Liebe in den Menschen einströmen möchte.
Warum konnte diese Praxis tausend Jahre lang nur im Geheimen gepflegt werden?
Als Alternative zum anspruchsvollen Verfahren der Selbstveredelung hatten die römische Kirchenoberen seit dem 5. Jahrhundert eine außerordentlich attraktive Vision der Erlösung ausgedacht: Das Abwaschen aller Sünden durch das von Jesus am Kreuz vergossene Blut. Die Gläubigen durften die mühevolle Arbeit an sich selbst ersetzen durch Anbetung des Kreuzes, an dem sich der Heiland freiwillig für sie geopfert hatte. Einladender als mit der Erfindung des ‚wahren Kreuzes‘ (vera crux) als automatischer Waschanlage der Seelen kann Religion sich kaum präsentieren.
Kreuzigsszene von ca. 580
Auf dieser frühen Darstellungen der Erlösung durch den Kreuzestod erkennen wir über den Köpfen der Verurteilten rechts und links außen je ein einfacher Balken. Über Christus dagegen ist ein fast symmetrisches Kreuz gemalt, ein Hinweis auf die seinerzeit noch lebendige hermetische Tradition der zu vereinigenden Gegensätze. Sein Körper ist allerdings schon sorgfältig angenagelt und wird zerstochen, damit das selig machende Blut fließt.
Vor dem 5. Jahrhundert war deses Thema praktisch unbekannt. Doch für die nachfolgenden 1000 Jahre konnte sich die Erlösung durch das vergossene Blut als werbewirksames Dogma behaupten. Ur-Christliche, naturphilosophische und hermetische Auffassungen wurden im gesamten römischen Reich systematisch getilgt.
Kirchen-Dogma gegen hermetisches Wissen
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Erst der ideologische Einbruch, den Kirche und Vatikan im 15. und 16. Jahrhundert – der Entstehungszeit der ersten Tarotspiele – erlebten, ließ das alte christliche Grundgefühl und christliche Gewohnheiten wie Nächstenliebe und Bedürfnislosigkeit, die vom pompösen Gestus der Religion überdeckt worden waren, erneut aufleben. Auch die hermetische Naturphilosophie fand wieder Anhänger: Wo die allgütige Natur regiert, bedarf es keiner Dogmen, keiner Scheiterhaufen, keiner Glaubenskriege.
Man erkannte in der ursprünglichen christlichen Ethik die natürliche Grundhaltung des Menschen.
Im gleichen Maße, wie Adam (hebr.: adama, das aus Lehm geborene Wesen) diese angeborene Natürlichkeit zugunsten ‚weltlicher Genüsse‘ vernachlässigt, entfernt er sich von der Lebensfreude wie von der Sittlichkeit.
Jetzt wollte die neue christlich-hermetische Bewegung die materielle Korruption überwinden und für alle Menschen das natürliche Leben zurückholen. Dabei wurde das Tarotspiel zur geheimen Gebrauchsanweisung für Adepten in ganz Europa.
Die Hermetische Wissenschaft
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